Deutsche unterbringungsrechtliche Praxis auf Bundes- und Länderebene nach Einführung des Betreuungsgesetzes (1992 – 2009)
J. Valdes-Stauber, H. Deinert, R. Kilian
Hintergrund: Angesichts des kontinuierlichen Anstiegs psychiatrischer Unterbringungsmaßnahmen in Deutschland stellt sich die Frage, ob diese Entwicklung maßgeblich durch die entsprechenden Rechtsgrundlagen oder durch andere, z. B. epidemiologische, soziokulturelle oder sozialstrukturelle Faktoren beeinflusst wird. Methoden: Die vorliegende Arbeit ist explorativ angelegt und basiert vornehmlich auf Vollerhebungen des BJM. Wir untersuchen die Entwicklung und die Zusammenhänge von 12 Variablen über einen Zeitraum von 18 Jahren. Die Zeitreihen werden deskriptiv behandelt, Zusammenhänge zwischen Variablen werden mittels Regressionsanalysen ermittelt. Methodische Einschränkungen werden diskutiert. Ergebnisse: Die jährlichen Unterbringungsraten stiegen signifikant bis hochsignifikant, die Anordnung von unterbringungsähnlichen Maßnahmen besonders stark (848 %). Alle untersuchten Variablen stiegen in erheblichem Maße bis auf die Rate an richterlichen Ablehnungen von Unterbringungen. Die Unterbringungsquoten blieben dagegen stabil. Die Unterbringungsraten liegen für die neuen Bundesländer um zwei Drittel niedriger als für die alten. Die Ergebnisse der Regressionsanalysen zeigen einen im Verhältnis zur Gesamtzahl der psychiatrischen Krankenhauseinweisungen überproportionalen Anstieg richterlich angeordneter bzw. genehmigter unterbringungsähnlicher Maßnahmen. Für die neuen Bundesländer zeigt sich eine signifikante negative Korrelation zwischen dem durchschnittlichen Bruttoeinkommen und der Rate psychiatrischer Zwangseinweisungen. Diskussion: Der kontinuierliche Anstieg der Unterbringungszahlen in der Folge der Betreuungsrechtsänderung deutet darauf hin, dass diese Änderung die Unterbringungspraxis nachhaltig beeinflusst hat. Die Unterschiede der Unterbringungszahlen auf Länderebene sowie der stärkere Anstieg in den neuen im Vergleich zu den alten Bundesländern bei insgesamt niedrigeren Raten bedürfen ebenso einer Erklärung wie die Tatsache, dass die Unterbringungszahlen zumindest in den neuen Bundesländern mit ökonomischen Rahmenbedingungen assoziiert sind.